Der Weg in die Unfreiheit. Russland, Europa, Amerika

Timothy Snyder ‚Der Weg in die Unfreiheit. Russland, Europa, Amerika‘

Buchbesprechung F.F.

Vorwort:

Ich stelle einen Denkansatz fest, der sich durch a) die Idee der ‚Politik der Unausweichlichkeit‘ und b) die Idee der ‚Politik der Ewigkeit‘ zeigt.

In der ‚Politik der Unausweichlichkeit‘ besteht die Zukunft einzig als eine Vermehrung des Gegenwärtigen (Wachstumszahlen). So beginnt eine neue Zeit der Unfreiheit, weil diese Mehrung für das Wohl der Zukunft unausweichlich ist. Da diese Haltung faktenresistent ist und die Geschichte vergisst, ist sie zum Scheitern verurteilt und geht über in die ‚Politik der Ewigkeit‘. Diese verknüpft mit der ‚Politik der Unausweichlichkeit‘ produziert Krisen, Kriege, vermeintliche oder echte Katastrophen, um von den Tatsachen abzulenken: Zukunft versinkt in der Gegenwart.

So verwandeln beide Tendenzen Fakten in Narrative: a) Fortschritt lässt sich nicht planen, niemand kann also verantwortlich sein. b) Jedes neue Ereignis ist eine Bedrohung und niemand ist schuld daran – es entsteht ein Mythos der Unschuld, auch hier kann somit niemand verantwortlich sein. Snyder meint, dass die Unausweichlichkeit Fakten verschönert und die Ewigkeit Fakten und Konzeptionen von Reformen unterdrückt. Er möchte mit diesem Buch die Gegenwart für die Geschichte und die Geschichte für die Politik zurückgewinnen. Das Werkzeug dazu bestehe in der Erkenntnis, einem gesunden Realitätssinn und einem Sinn für Verantwortung.

Es sieht von Putin eine negative Dynamik ausgehen – fake news sind keine amerikanische, sondern eine russische Erfindung. Er sieht in seiner Untersuchung eine Wiederkehr von totalitärer Denkweise und einen Zerfall der demokratischen Ordnung in Russland, die Revolution in der Ukraine sowie eine Verbreitung der politischen Fiktion sowohl in Russland, als auch in Europa und in Amerika. Er sieht es auch als gegeben an, dass Trump in den USA nicht zum Präsidenten geworden wäre, wenn nicht der Einfluss Putins dagewesen wäre. Wörtlich sagt er: „Da wir gerade aus der Unausweichlichkeit herauskommen und mit der Ewigkeit kämpfen, kann eine Geschichte des Zerfalls ein Leitfaden zur Wiederherstellung (wovon? Erkenntnis, Realitätssinn, und Verantwortlichkeit?) sein“.

Dies ist möglich dadurch, dass wir durch bewusste Geschichtsschreibung als Form politischer Reflexion – alle Fakten (?) – eine Zäsur zwischen der Unausweichlichkeit und der Ewigkeit ermöglichen, die es verhindert, stets vom einen ins andere zu gleiten und darin den Moment zu erkennen, in dem wir wirklich etwas verändern können.

Eindruck: Wie ist es mit der Erfindung von Fake-News?:

Hitlers Ansprache 1. Sept. 1939, wikipedia: „Polen hat heute Nacht zum ersten Mal auf unserem eigenen Territorium auch mit bereits regulären Soldaten geschossen. Seit 5:45 Uhr wird jetzt zurückgeschossen! Und von jetzt ab wird Bombe mit Bombe vergolten! Wer mit Gift kämpft, wird mit Giftgas bekämpft. Wer selbst sich von den Regeln einer humanen Kriegsführung entfernt, kann von uns nichts anderes erwarten, als dass wir den gleichen Schritt tun. Ich werde diesen Kampf, ganz gleich, gegen wen, so lange führen, bis die Sicherheit des Reiches und bis seine Rechte gewährleistet sind.“

15. August 1953 Persien, Absetzung des Demokraten Mossadegh, wikipedia: Im August 1953 wurde die Regierung Mossadegh unter Beteiligung der Nachrichtendienste der USA und Großbritanniens gestürzt. Der Putsch führte schnell zu einer großangelegten Verwicklung der USA in die iranische Politik, die in der iranischen Öffentlichkeit als äußerst negativ angesehen wurde. Offiziell war es ein interner Machtwechsel (Fake), später stellte sich die Beteiligung von ausländischen Geheimdiensten heraus.

Am 4. August 1964, wikipedia wurde der US-amerikanische Zerstörer „Maddox“ im Golf von Tonkin angeblich mit nordvietnamesischen Torpedos beschossen – eine Lüge, wie sich Jahre später herausstellte. Die USA antworteten mit Bomben und fanden sich in einem Krieg wieder, der nie erklärt wurde.

Begründung für den Irak-Krieg, 2003, wikipedia: Viele Historiker und Investigativ Journalisten beurteilen die falsche Kriegsbegründung als vorsätzliche, kampagnenartige Täuschung, die ausreichende Zustimmung für die schon getroffene Kriegsentscheidung herbeiführen sollte. Viele halten wirtschaftliche und geopolitische Interessen der USA und Großbritanniens, vor allem am Erdöl, für die eigentlichen Kriegsursachen. Andere sehen die Falschangaben als von damaligen Annahmen der Geheimdienste gedeckte Irrtümer.

Vielleicht gäbe es noch viele solcher Beispiele, es sind gerade die, die mir in den Sinn kommen. Jede Regierung, die Macht ausübt, erzählt Lügen, meiner Ansicht nach kann die Erfindung von Fake-News nicht Putin allein zugeschrieben werden.

 

Individualismus oder Totalitarismus (2011)

Gemäß Snyder bezieht sich Putin auf den christlich-faschistischen Philosophen Iwan Iljin. Putin erkennt die Sackgasse der ‚Politik der Unausweichlichkeit‘ durch die Zukunft in der Gegenwart versinkt und geht über zur ‚Politik der Ewigkeit‘. Statt einer vermeintlichen Demokratie wie unter Jelzin der Fall, entwickelt er einen autoritären Staat mit loyalen Oligarchen. Dabei geht er gegen den Individualismus (Freiheit?) vor, gegen Integration (staatliche oder soziale?), Neuerung, Wahrheit (was ist Wahrheit?) und Gleichheit. Gemäss Iljin führt er ein metaphysisch gedachtes ‚russisches Volk‘ als eine totale ‚Brüderliche Einheit‘ und spricht der Ukraine die Eigenständigkeit ab. Durch den Kommunismus, der durch Lenin aus dem Westen importiert wurde, sei das bislang unschuldige Russland gewalttätig verändert worden. Dieses habe seit jeher nur Kriege zur Selbstverteidigung bestritten. Dem Individualismus stellt er den metaphysischen Kollektivismus des russischen Volkes gegenüber. Dadurch entsteht nach Snyder eine nützliche Ideologie für die Oligarchen, die so das Gesetz zu ihrem Vorteil umschiffen können. Die Abhandlung des ersten Kapitels mündet in eine gedankliche Auseinandersetzung zwischen den Ideen von Marx (Links-Hegelianer) ihm selber (Rechts-Hegelianer) und den Ideen Mussolinis (Korporatismus) und Hitlers (Rassenlehre und Korporatismus).

Für mich bemerkenswert ist die Schlussbemerkung über die Gefahr, in der das Individuum ständig schwebt, nämlich seine Individualität zu verlieren, wenn es sich ständig der niemals endenden Faktizität bewusst ist und nicht ständig seine Wahl trifft zwischen einer Vielzahl von Leidenschaften, die nicht (!) auf ein einziges (!) Ziel reduziert werden können.

Die Tugend richtig verstandenen Individualismus kann gerade heute bewusstwerden, wenn wir uns selbst als ein Teil der Geschichte verstehen und die dadurch entstehende Verantwortung akzeptieren.

Eindruck: Die alte Frage ‚Was ist Wahrheit?‘ wird hier als definierbare Wahrheit dargestellt. Wie ist aber Wahrheit anders definierbar als so: Was fruchtbar ist, allein ist wahr … (Goethe, Das Vermächtnis). Das Individuum muss aus Freiheit mit der Gesellschaft in Einklang gelangen, dann ist die Gesellschaft oder der Staat wahr. Dabei ist zu unterscheiden zwischen dem Individuum, das seine Individualität (individuelle Ethik des ‚Ich will dich verstehen‘) nicht verloren hat und dem Individuum, das seine Individualität verloren hat. Wenn diese verloren geht, ist ein Miteinander von Individuum und Gemeinschaft nicht möglich, weil das Individuum anstelle der Individualität ein unzugängliches EGO aufweist, das nicht gesellschaftsfähig ist bzw. sozial-zerstörerisch tätig ist und so vom Rechtsstaat (Judikative) die Grenzen aufgezeigt bekommen muss. Nur so kann eigentlich auch Integration gelingen.

 

Nachfolge oder Scheitern (2012)

Interessante Erläuterungen über die Entwicklung von der Sowjet-Union, deren Untergang und von Russland bis zur Situation im Jahr 2012. Lenin/Stalin: Der Sozialismus wird den Kapitalismus ablösen. Die Oktober-Revolution als Mythos des Versprechens, dass alle Menschen Brüder werden. Im Kalten Krieg: Nicht nur Breschnew setzte auf den Einsatz der Armee als Abschreckung. Gorbatschow als Hoffnung in West und Ost mit seinem Glauben an die Reformfähigkeit des Kommunismus und Stärken von föderalen Einheiten mit demokratischen Wahlen. Jelzin trennt Russland aus der Sowjet-Union heraus. Weißrussland und Ukraine werden vertraglich geregelt zu unabhängigen Staaten, ebenso wie die Russische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik, die sich nun als konstitutionelle Republik, demokratisch legitimiert, Russische Föderation nannte (RF).

Jelzin hatte offensichtlich nicht das Format, diese Absicht durchzusetzen und es entstand eine neue Klasse von Oligarchen. Die Oligarchen setzten auf zügellose Privatisierung und es gelang kaum, den Markt als natürlichen Regulator und eine Politik der Rechtsstaatlichkeit zu etablieren. Die Nachfolge des offensichtlich alkoholkranken Jelzin wurde durch seltsame Umstände von Wladimir Putin übernommen. Stabilität und wirtschaftlicher Aufschwung ergaben 2004 eine absolute Mehrheit für seine Partei „Einiges Russland“ für eine zweite Amtszeit und 2012 für eine dritte. Zwischenzeitlich übernahm Dmitri Medwedjew als Marionette Putins die Führung. Die gefälschten Wahlen von 2012 führten zu Protesten, diese hatten aber keinen Erfolg, weil die Fiktion, dass die USA und die EU die Zerstörung Russlands planten, den Feind ins Außen zu setzen vermochten und so das Land bis zu einem gewissen Grad einigten. Die Ideologie in Russland setzte sich im Innern erfolgreich von der westlichen Entwicklung ab, die später in den „Queer-Theorien“ mündete. Putins Schachzug mit der Verbindung zur Orthodoxen Kirche kam dem allgemeinen Volksempfinden nahe und so wurde die Oktoberrevolution als ‚jüdisch‘ kodifiziert und das Volk durch die Quelle der Brüderlichkeit neu christlich spiritualisiert. Putin wurde zum rechtmäßigen Führer auch für die Russen in der Ukraine. Wörtlich: Im Jahre 2013 verführte oder bedrängte Russland seine europäischen Nachbarn, ihre Institutionen und ihre Geschichte abzuschaffen. Wenn Russland nicht wie der Westen werden konnte, sollte der Westen eben wie Russland werden. (…) Sollten sich die USA oder die EU zu Putins Lebzeiten auflösen, könnte er die Illusion von Ewigkeit weiterentwickeln.

Eindruck: Wie ist es mit der Erweiterung der EU und der Nato? Sind diese Schutz vor Putins Russland oder sind diese eine Annäherung an die Grenzen Russlands und damit eine Bedrohung für Russland? Das ist eine große Streitfrage und muss versuchsweise ohne Parteinahme beantwortet zu werden.

Ein Schlüssel zur Beantwortung ist die Absicht der Bush-Administration und später Obamas zur Errichtung eines amerikanischen Raketenabwehrschirms in Mittel- und Osteuropa mit dem Argument, mögliche iranische Raketenangriffe (!) abzuwehren … was Russland sofort mit der Absicht beantwortete, dies auch an der polnischen Grenze und in Kaliningrad zu tun. 2009 unter Obama verzichteten die USA darauf und in der Folge auch Medwedjew. Die Ereignisse um die Majdan-Revolution sind höchst umstritten und werden wohl nie ganz geklärt werden. Das einzig Sichere ist, dass Russland dem Westen Bedrohung unterstellt und der Westen Russland. Diese gegenseitigen Unterstellungen führten zu den Minsker-Verträgen I und II, die ständig zu neuen Streitereien führten. Merkel bemerkt in einem Interview in der ‚ZEIT‘, dass das Minsker Abkommen von 2014 der Versuch gewesen sei, der Ukraine Zeit zu geben. "Sie hat diese Zeit auch genutzt, um stärker zu werden, wie man heute sieht." Dies wurde von Putin sofort so umgedeutet, dass die Minsker Verträge vom Westen bloß als Vorwand zur Aufrüstung der Ukraine benützt wurden und Russland auf diese Weise hintergangen.

Für mich sind diese Auseinandersetzungen aus reinem Machtdenken beider Seiten anzuschauen. Letztlich geht es aus meiner Sicht um etwas ganz anderes, das für beide Machtpole von Bedeutung ist. Mackinder, englischer Stratege, 1904:

Who rules Eastern Europe commands the Heartland
Who rules the Heartland commands the World Island
Who rules the World Island commands the World
deutsch:
Wer über Osteuropa herrscht, beherrscht das Herzland.
Wer über das Herzland herrscht, beherrscht die Weltinsel (Asien).
Wer über die Weltinsel herrscht, beherrscht die Welt.“

– Mackinder, Democratic Ideals and Reality, S. 106

Diese Strategie, die für beide Machtpole gilt, wird bekräftigt durch die Ansichten Kissingers und Brzezinskis (Die einzige Weltmacht) und den US-Think-Tank Stratfor: „Also, das primäre Interesse der Vereinigten Staaten durch das letzte Jahrhundert hindurch – also im Ersten, Zweiten und im Kalten Krieg – sind die Beziehungen zwischen Deutschland und Russland gewesen, denn vereinigt wären diese beiden die einzige Macht, die uns bedrohen könnte – und daher ist sicherzustellen, dass das nicht passiert. (Friedman about Stratfor: Intelligence vs. Journalism.)

Umgekehrt gilt dies aber auch: Russland soll diese Verbindung keinesfalls anstreben, da sich die USA dadurch bedroht fühlen.

In seinem Buch The Next Decade … skizzierte Friedman 2010 auch Zukunftsszenarien für die Europäische Union (EU) und Deutschland: Andreas Rinke fasst in seiner Rezension in Deutschlandradio Kultur die seiner Meinung nach wesentlichen Aussagen Friedmans zusammen: Schon bis 2020 würden EU und Euro erheblich an Bedeutung verlieren. Ein mächtigeres Deutschland werde sich langsam von der EU und den USA abwenden und dafür eine enge Kooperation mit Russland suchen. Vor diesem Hintergrund sei es Aufgabe künftiger US-Präsidenten, zur Eindämmung Deutschlands die EU-Partner gegeneinander auszuspielen und zu ausgewählten deutschen Nachbarstaaten wie Polen oder Dänemark enge Beziehungen zu pflegen. (Provozierende machtpolitische Überlegungen. In: Deutschlandradio Kultur.)

In seinem Bestseller Die nächsten hundert Jahre prognostizierte Friedman 2009, das 21. Jahrhundert werde ganz der Behauptung amerikanischer Übermacht gelten. Er sieht die USA nicht im Abstieg begriffen, sondern kurz vor einem grandiosen Aufstieg. Die militärische und technologische Stärke der USA würden unterschätzt. Die Zukunft entwirft er in detaillierten weltumspannenden Szenarien. (Martin R. Textor, Rezension vom 22. Juli 2009 zu: George Friedman: Die nächsten hundert Jahre. Die Weltordnung der Zukunft.)

Kurz gesagt, der Zankapfel zwischen Russland und den USA ist die Herrschaft über West- Mittel- und Osteuropa. Dies von beiden Polen aus gesehen. Es ist nicht die eine Weltmacht gut und die andere Weltmacht schlecht. Es geht letztlich um die Identität Europas. Identität ist nur durch Unabhängigkeit zu erreichen. Unabhängigkeit von beiden Seiten. Die Grundlagen dazu sind seit der Aufklärung gegeben. Sie werden bis heute nicht ausgeschöpft. Darin liegt meiner Ansicht nach der Grund aller Konflikte mit Beteiligung Europas seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts.

Geschichte ereignet sich nicht einfach, wie ich den Eindruck habe, dass Snyder das postuliert. Geschichte ist Bewusstseinsentwicklung und bewegt sich durch Ideen, die sich entweder dem Menschen anpassen oder durch Ideologien, die den Menschen knechten.

In der Einschätzung der Ideologie Russlands stimme ich ganz mit Snyder überein. Im Gegensatz aber zu der Ideologie der USA erscheint diejenige Russlands gut geschildert als christlich-dogmatisch. Wenn er sie faschistisch nennen will, kann er das. Es kommt auf die Definition des Faschismus an. Für mich besteht Faschismus dann, wenn sich (wie Mussolini postulierte) wirtschaftliche Interessen mit politischen Interessen verbinden (fascio - Bündel; facsiare - verbinden). Dies wurde in den 30er Jahren bewusst staatlich organisiert und zeigt sich heute in der Modifikation des Lobbyismus der Konzerne, der sich der Stimmen der Politiker bedient, um seine Ziele zu erreichen (eine gesellschaftlich akzeptierte Form der Korruption). Den Faschismus in Russland würde ich fast eher mit dem islamischen Gottes-Staat vergleichen, nur dass ich glaube, dass Putin es völlig egal ist, was ein Gott meint, solange die Leute glauben, dass er in diesem Sinne wirke. Da wird das Individuum dem Staatsinteresse untergeordnet und es denkt unaufgeklärt, dass es im Sinne des Gottes wirke. In der UDSSR stand einfach die Ideologie des Sozialismus anstelle der Gottes-Ideologie - letztlich kam es für das Individuum aufs Selbe heraus.

In den USA - ja und auch in der EU - sehe ich eher die Modifikation des Faschismus in Lobbyismus - in Brüssel sind 25'000 - 30'000 Lobbyisten am Werk. Auf die 705 Abgeordneten verteilt, macht das gerade mal ca. 40 Lobbyisten auf einen Abgeordneten. Es kommt hier gar nicht darauf an, ob man von Links - Rechts - oder Mitte spricht. In einer wirklichen Demokratie wählt das Volk zumindest die Legislative - oft auch die Exekutive (in der Schweiz wählt allerdings das Parlament den Bundesrat). Da Richter meist durch Parteien gestellt werden, ist auch deren Unabhängigkeit nicht wirklich gewährleistet (egal ob links - rechts - oder Mitte). In der EU ist es allerdings so, dass zwar das Volk das EU-Parlament wählt, nicht aber die Exekutive - bzw. den Kommissionspräsidenten. Die Europäische Kommission wird von ihrer Präsidentin und den 26 Kommissarinnen und Kommissaren, je einem Mitglied pro Land, geleitet. Der Kommissionspräsident oder die Kommissionspräsidentin wird vom Europäischen Parlament im Anschluss an die Europawahlen für eine Amtszeit von 5 Jahren gewählt. Das Volk hat weder ein Initiativ- noch ein Referendumsrecht. Das EU-Parlament kann Gesetzesvorschläge der Kommission annehmen oder ablehnen, kann aber keine eigenen Gesetzesvorschläge durchsetzen ... Was überall in einer Demokratie sein muss, damit sie diesen Namen verdient, ist die gegenseitige Kontrolle von Legislative und Exekutive und die unabhängige Judikative. Das ist in der EU nicht der Fall. Die EU ist eine Scheindemokratie (s. Die Nazi-Wurzeln der Brüsseler EU).

Das ist in den USA anders, das steht dem Kongress die gesetzgebende Gewalt zu. Aber auch dort spricht der Lobbyismus der Konzerne immer mit.

Wenn der Lobbyismus so stark wirkt wie in den westlichen Demokratien, kann von einer Verbindung der Staatsinteressen (Steuern, Beschäftigung, Volkswirtschaft, Brutto-Sozial-Produkt usw.) mit der Wirtschaft gesprochen werden. Da wird das Individuum dem Interesse der Wirtschaft untergeordnet und es glaubt unaufgeklärt, dass es zum Wohlfahrtsstaat beitrage, indem es sich wirtschaftlich in Einklang bringt mit diesen Interessen.

Beide Ausrichtungen - die transatlantische ebenso wie die eurasische - sehen in den Individuen ohne Individualität (Snyder) eine Manövriermasse zum Erreichen der staatlich-religiös-wirtschaftlich (Russland) oder staatlich-wirtschaftlich (USA-EU) gesetzten Ziele. Dies in einer Form der Unausweichlichkeit und der Ewigkeit. Das transatlantische Bündnis kommt mir im Vergleich zur Intension 'Eurasien' zu gut weg.

Was Snyder elegant weglässt sind die vielen Interventionen in fremde staatliche Hohheit und Kriege des westlichen Bündnisses. Inwieweit diese alle 'berechtigt' waren, bedürfte einer tiefgreifenden Untersuchung. Profitiert hat aber vor allem der US-Militär- und Wirtschaftskomplex: Korea (1950) - Suezkrise (1950) - Persien (1953) - Kuba (1961) - Laos (1964) - Vietnam (1964 - 1975 - Fake Golf von Tonkin als Kriegsgrund) - Dominikanische Republik (1965) - Bolivien (1967) - Kambodscha (1970) - Jordanien (1970) - Angola (1970) - Salvador (1977) - Iran (1980) - Nicaragua (1982) - Libanon (1983) - Grenada (1983) - Libyen (1986) - Iran (1988) - Panama (1989) - Liberia (1990) - Kolumbien (1990) - Saudiarabien (1990) - Kuweit (1990) - Jugoslawien (1992) - Irak (1992) - Somalia (1992) - Haiti (1994) - Sudan (1998) - Jugoslawien (1999) - Somalia (2001) - Afghanistan (2001) Irak (2003 - Fake: Massenvernichtungswaffen) - Haiti (2004) - Libyen (2011) - Liberia (2014) - Naher Osten (2014 'Bekämpfen' des Islamischen Staates, den man selber provoziert hat, um an die Öl-Quellen zu gelangen, Furcht vor dem Peak-Oil, den es geologisch seriös betrachtet gar nicht geben kann - hier irrt auch der Daniele Ganser ganz gewaltig) - Jemen (2015) -  Syrien (2017) - Syrien (2018) - Iran (2020 - Tötung eines Generals)

Dem stehen ebenso Interventionen der UDSSR bzw. der RF gegenüber - die aber nie dasselbe Ausmaß haben.

Beides ist meiner Ansicht nach zu verurteilen und es wird sichtbar, wie von zwei verschiedenen Ideologien her die Individuen als Masse missbraucht werden und alles darangesetzt wird, dass die Individualität des Individuums nicht erwachen kann. (Snyders Differenzierung zwischen Individuum und Individualität ist genial).

Hier würde die Aufgabe Europas einsetzen, uns so könnten die Unausweichlichkeit und die Ewigkeit überwunden werden, das bedeutet, dass sich im Individuum, die Individualität entwickeln könnte.

Snyder beschreibt die wirtschaftliche Produktivität Europas, die vor der Pandemie jene der USA wenn nicht übertraf, dann doch sie aus Sicht der USA übertreffen könnte - das war ganz gegen Trumps USA bzw. Amerika first. Trump ist ein extremer Exponent der US-Ideologie. Sowie Putin ein extremer Exponent ist der RF-Ideologie.

Was hätte Europa zu tun? Das, was schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts angestanden hat: Eine Gesellschaftsform zu entwickeln, die im Individuum die Individualität fördert und zur Blüte bringt (Idee der Aufklärung!). So dass nicht mehr Machtpolitik, sondern Sachpolitik im Vordergrund steht. Das ist möglich, wenn wiederum gemäß der Aufklärung die Entwicklung des kulturellen, wissenschaftlichen, religiösen Lebens, der Bildung, Medizinischen Versorgung und Pflege der freien menschlichen Entfaltung dienen. Wenn die Ökonomie zur Einsicht kommt, dass der 'Egoismus = mein Unternehmen soll blühen' die Aufgabe hat, dafür zu sorgen, dass es ihm am besten geht, wenn es dem einfachsten und ärmsten Menschen gut geht und wenn die Politik durch die Gewaltentrennung - Legislative, Exekutive und Judikative - dafür sorgt, dass die Verhältnisse zwischen der freien kulturellen Entfaltung und dem berechtigten wirtschaftlichen Egoismus so geregelt sind, dass die Ideen, die die freie Individualität schöpft, dem Wirtschaftsleben als Innovationskräfte zur Verfügung gestellt werden. Die Gewinne der Wirtschaft oder ein Teil davon müssten wiederum durch neutrale Vermittlung der Politik der Wissenschaft und Kultur zugutekommen, ohne dass eine Einflussnahme durch Konzern- und Polit-Interessen stattfindet.

Wenn wir dies in Europa nicht erreichen und sich Europa nicht zwischen die Ideologien des Westens und Ostens als starke neutrale Kraft positionieren kann, was es dem Potenzial nach wäre und was vom Westen ebenso wie vom Osten verhindert werden will, dann wird das in einer verheerenden sozialen Katastrophe münden, von der vergangene Katastrophen wohl nur ein schwacher Abglanz sind.

Fazit: Für mich ist Timothy Snyder 'Der Weg in die Unfreiheit - Russland, Europa, Amerika' sehr lehrreich, obwohl ich finde, dass die westliche Ideologie viel zu gut wegkommt gegenüber der östlichen und dass die Entwicklung des Individuums zur Individualität darin zwar angesprochen ist, aber nicht im Sinne dessen, was Europa dringend bedürfte, wenn es nicht zu spät ist, und weiter ausgearbeitet werden müsste.

Das Verrückte aus meiner Sicht ist in der Politik dieses: Wenn für oder gegen eine der Ideologien Position genommen wird, stärkt man in der modernen Welt immer die Gegenseite. Ein typisches Beispiel in Deutschland - die extrem transatlantische (grün-rote) Haltung treibt die Individuen - nicht die Individualitäten - zur AFD. Ebenso wäre es, wenn die AFD an der Macht wäre und ideologisch verbrämt eurasisch wirken würde, dann triebe es die Individuen zu den transatlantischen Parteien. Es gibt nur die Lösung, dass die Menschen zu Individualitäten werden und ein Europa der Verständigung bauen, dann ist die Unausweichlichkeit und die Ewigkeit der Ideologien überwunden.

 

Basel, 25. September 2023                                                            Fritz Frey